Cover
Titel
Vom Schlachtfeld der Arbeit. Aspekte von Männlichkeit in Prävention, Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik


Autor(en)
Knoll-Jung, Sebastian
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte Über die Reihe (80)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
597 S., 16 s/w Abb., 8 s/w Tab., 4 s/w Zeichn.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Itzen, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Unfälle gehören zu den wichtigsten Problemen von Industriegesellschaften – so wichtig, dass sie vielfach schon als Selbstverständlichkeit hingenommen werden. Diese Erkenntnis erscheint seit dem Ende der Steinkohleförderung 2018 und dem Fortschreiten des automatisierten Autofahrens heute in klarerem Licht als noch vor wenigen Jahren, als dampfende und qualmende Industrieanlagen gegenwärtiger und nur mit geringen technischen Einhegungen und Abmilderungen ausgestattet waren, die die industrielle Fertigung inzwischen mitunter wie einen weitgehend klinisch-kontrollierten Prozess erscheinen lassen.

Solche Eindrücke sind klischeebehaftet und blenden die fortdauernde Realität von harter und gefährlicher körperlicher Arbeit aus, doch zeigen sie zumindest eine Tendenz auf und machen typische Phänomene der Industriemoderne zu einem erneuten Erkenntnisinteresse. Sebastian Knoll-Jungs Arbeit über die Geschichte des Arbeitsunfalls in der Hochmoderne von Kaiserreich und Weimarer Republik bietet genau das: Über die Analyse der Geschichte dieses Phänomens verdeutlicht er Grundzusammenhänge und Dynamiken der entstehenden Industriegesellschaft. Die beinahe enzyklopädische Vollständigkeit des Werks macht das Buch nicht durchgehend zu einem uneingeschränkten Lesegenuss. Die Breite des Untersuchungsansatzes und die Fülle der zurategezogenen Quellen, von Autobiographien und anderen Ego-Dokumenten bis zu Berichten der Berufsgenossenschaften und internen Unternehmensunterlagen und der weitgehend vollständig erfassten Forschungsliteratur sind aber ohne Zweifel überaus beeindruckend. Das imposante Buch wird deshalb für viele auf diesem Feld arbeitende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Recht zu einem oft konsultierten Kompendium werden.

Knoll-Jungs Untersuchung beschränkt sich nämlich nicht, wie im Untertitel ausgelobt, auf eine gendergeschichtliche Perspektive. Er zeigt zwar immer wieder, wie tradierte und neu geschaffene Männlichkeitsbilder auf die Wahrnehmung von Unfällen einwirkten. Aber er bleibt dabei nicht stehen, sondern demonstriert beinahe in Wehlerscher Vollständigkeit und Systematik, wie Unfälle die individuelle Alltagsbewältigung prägten, wie die verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit den Umgang mit Unfällen beeinflussten, welche Rolle inner- und außerbetriebliche Machtverhältnisse spielten und wie Verrechtlichungs- und Professionalisierungsprozesse seine Entwicklung begleiteten. Anders als Wehler interessiert sich Knoll-Jung jedoch nicht nur (noch nicht einmal in erster Linie) für klassische sozialgeschichtliche Zusammenhänge, sondern auch für die „anthropologische Dimension der Geschichtswissenschaft“ (T. Nipperdey), für Wahrnehmungen, Debatten, veränderte Selbstverständlichkeiten – und eben Männlichkeitsbilder. Für die Verknüpfung dieser beiden Ansätze hat sich das Label „praxeologisch“ durchgesetzt. Aber wie so oft in der Geschichtswissenschaft, verbirgt sich hinter solchen Bezeichnungen oft einfach gediegene Forschungsarbeit. So glücklicherweise auch hier.

Nicht alle Befunde Knoll-Jungs überraschen. Die Leistung der Arbeit besteht nicht zuletzt darin, den Stand der Forschung zusammenzutragen und zu systematisieren. So ist nicht neu, dass die Prävention von Unfällen von vielen Ambivalenzen geprägt war: Sie sollte Unfälle verhindern, aber dies geschah, wenn es von Unternehmern vorangetrieben wurde, in der Regel nicht uneigennützig, während unter den Bedingungen der Hochindustrialisierung Produktionsprinzipien wie die Akkordarbeit in der Arbeiterschaft eher die Risikofreude anregten als die Bereitschaft, sich genauestens an verlangsamende Sicherheitsvorschriften zu halten. Zudem engten soziale und disziplinarische Hierarchien innerhalb der Unternehmen die Möglichkeiten drastisch ein, Kritik an einer gefährlichen Arbeitsumgebung zu üben. Auch wissen wir seit längerem, dass bürgerliche und akademische Schichten oft für das Verhalten von Arbeitern nicht nur keine Sympathie empfanden, sondern ihnen für die Grundregeln von deren Zusammenleben schlechterdings das Verständnis fehlte. So wundert es nicht, dass Ingenieure zwar lange Zeit in der Sicherheitsforschung tonangebend waren, ihre Vorschläge sich aber an den praktischen Gegebenheiten des Produktionsprozesses stießen und letztlich von Arroganz gegenüber den Arbeitern zeugten. Dazu passt, dass in der frühen Unfallverhütungspropaganda, wie auch John Burnham demonstrieren konnte, nicht die Arbeitsbedingungen oder fehlerhafte Technik als Hauptursache für Unfälle angesehen wurden, sondern der vermeintlich unüberlegt handelnde Arbeiter, der vor den Folgen seiner Handlungen zu warnen sei. Bilder von Männlichkeit spielten in dieser Kommunikation oft eine zentrale Rolle – etwa, wenn auf Plakaten an die Verpflichtung der Arbeiter erinnert wurde, auch für Frau und Kind zu sorgen und das Einkommen der Familie nicht zu gefährden, und damit, wie Knoll-Jung an anderer Stelle seines Buches zeigt, an Debatten und Wahrnehmungen innerhalb der Arbeiterfamilien selbst angeknüpft werden konnte.

Nicht nur bei seinen Ausführungen zur Unfallverhütungspropaganda geht Knoll-Jung aber über die Analyse der Debatte selbst hinaus und fragt seinem praxeologischen Ansatz folgend nach der Alltagsrelevanz dieses Mittels, eine geradezu wohltuende Abwechslung nach den vielen Jahren, in denen auch in der Sozialgeschichte überwiegend Debattenrekonstruktion und -analyse betrieben wurde. So erfährt man, dass die Plakate oft zwar schlampig aufgehängt wurden, aber ihre Botschaft durchaus Wirkungen hatte und im Mikromanagement das Verhalten der Arbeiter am Arbeitsplatz zum Teil ändern konnten. Aber auch abweichende Reaktionen gab es: den klassischen Arbeiterstolz, der scheinbar übertrieben vorsichtiges Verhalten für unnötig erklärte, sowie die Bedeutung klassischen Erfahrungswissens, das in Form einer „vernacular risk culture“ (Arwen Mohun) innerhalb der Arbeiterschaft weitergegeben wurde. So zeigt Knoll-Jung immer wieder, dass Unfallwahrnehmung und Unfallbekämpfung von Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt waren und die Wirkungsmöglichkeiten von Experten durch eine Arbeiterkultur begrenzt wurden, die von eigenen Selbstverständlichkeiten beeinflusst war. Unfälle waren ein janusköpfiges Phänomen: In ihnen spiegelten sich politische und gesellschaftliche Konflikte sowie kulturelle Wahrnehmungsmuster. Sie hatten damit den Charakter eines Konstrukts, konnten aber durch ihre Folgen, durch die Gefährdungen für die beteiligten Akteure auch selbst Veränderungen vorantreiben: in Form von Aufklärungsarbeit, in Form technischer Verbesserungen, in Form veränderter Umgangsweisen der beteiligten Akteursgruppen.

Die Arbeit ist geprägt von ihrer beinahe handbuchartigen Struktur. Dabei geht die historische Dynamik des Themas, die große Bedeutung der 1920er-Jahre für ein neuen, oft professionelleren, zum Teil an amerikanischen Vorbildern orientierten Umgang mit Unfällen etwas verloren. Das ist schade, gerade weil Knoll-Jung diese in seinen Einzelanalysen nachweisen kann. Manchmal mag man es daher bedauern, dass er so stark an systematischer Analyse interessiert ist und weniger daran, Geschichten zu erzählen oder die Arbeit argumentativer zu gestalten. Knoll-Jung kennt die Bedeutung solcher Erzählungen selbstverständlich, folgt aber nicht ihrer Suggestionskraft, sondern zerlegt sie chirurgisch, indem er sie unter verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Aber vielleicht ist das auch ein Gewinn in einer Zeit, in der man sich vor Narrativen selbst in Talkformaten kaum mehr zu retten vermag.